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Prof. Dr. Helmut Reichling  zu Themen von gestern, heute und morgen
aktualisiert am: 16.07.2019

 

 

 

 

 

Tot der Innenstadt

 

 

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Warum stirbt die Innenstadt?

Prof. Dr. Helmut Reichling, Hochschule Kaiserslautern, Mittelstandsökonomie Juli 2019

Kleine, inhabergeführte Geschäfte, einesneben dem anderen, in liebevoll restaurierten Altbauten, die ganze Einkaufsstraße entlang. Dazwischen Cafés und Bistros mit Sonnenschirmen und Sesseln unter breiten Schirmen, darum herum Bäume und gepflegte Blumenbeete und natürlich überall freundliche und fachkundige Bedienungen, möglichst ohne Mittagspause und bis 21 Uhr.

Ein Paradies für fröhliche Flaneure und Shopper in Kauflaune.

Das Idealbild einer lebendigen Innenstadt.

Die Realität in den meisten Klein- und Mittelstädten sieht meist ganz anders aus:

Die Seitenstraßen vermitteln mit verlassenen Ladengeschäften eine trostlose Atmosphäre, die Leerstände breiten sich immer mehr auch in Richtung Zentrum aus. Mancherorts ragt sogar noch ein ehemaliges und rapide verfallendes Warenhaus mit verhängten Fenstern in das düstere Ensemble von Spielhallen, Wettbüros und Kleinpreisgeschäften hinein.  

In den Kernzonen der Innenstädte, heute normalerweise Fußgängerzonen, haben Filialisten mit standardisiertem Warenangebot die angestammten Familienbetriebe verdrängt, deren Inhaber schlussendlich noch über jeden passablen Mieter für ihre Immobilie froh waren. Optiker, Akustiker, Bäckereien und Apotheken prägen die Einzelhandelslandschaft, ergänzt durch Telefonläden, Shishabars und Dönerbuden.

Das sogenannte Einkaufserlebnis hat sich längst auf die grüne Wiese oder in die Malls[1] der Großstädte verlagert.

Jedes Mal, wenn ich zu Begutachtungen oder Beratungen in eine Stadt komme, bietet sich mir quer durch Deutschland das gleiche Bild. Dabei höre ich immer wieder dieselben Klagen der innerstädtischen Geschäftsleute: Die Innenstadt stirbt.

Die Verantwortlichen in den Kommunen haben die Probleme längst erkannt. Meistens wird der Erfolg oder Misserfolg der Stadtführung daran gemessen, wie belebt die Innenstadt noch ist und wie der Niedergang gestoppt werden kann.

Viele Bürgerinnen und Bürger, die über ihre sterbende Innenstadt klagen, meinen nur ihre eigene Stadt wäre betroffen. Sie suchen die Schuldigen in der Kommunalpolitik und sehen dabei nicht, dass es sich bei dem Tod der Innenstädte um ein epidemisches Phänomen handelt. Auch die Nachbarstädte, auch solche Städte, die noch als Vorbild genannt werden, sind vom Virus befallen.

Die Probleme sind überall gleich, und in allen Gesprächen höre ich Klagen darüber, wie hausgemacht das Sterben der Innenstadt sei.

Von den innerstädtischen Einzelhändlern kommt in allen Städten mit schöner Regelmäßigkeit das Argument der schlechten Parksituation. Die vorhandenen Parkplätze seien entweder zu wenig, zu weit entfernt oder zu teuer.

Die Klagen über die Konkurrenz auf der sogenannten grünen Wiese sind weitgehend verstummt, wahrscheinlich weil die betroffenen Einzelhändler schon gar nicht mehr existieren. Seit einigen Jahren wird stattdessen über die Online-Konkurrenz geklagt und zwar mit den gleichen Argumenten, mit denen früher schon das Kaufverhalten der Kunden kritisiert wurde. Es wird Beratung im Fachhandel erwartet, gekauft wird beim Fachdiscounter (früher) oder beim Online-Versand (heute).

Von Seiten der Kunden wird bemängelt, dass es keine schönen individuellen Geschäfte mehr gebe, nur noch Filialisten mit überall gleichem Sortiment. Es lohne sich nicht mehr zum Einkaufen in die Innenstadt zu gehen, weil dort nichts Attraktives mehr zu findet sei, der Einkauf in der Innenstadt biete kein Erlebnis mehr und zudem fehlten einheitliche Öffnungszeiten.

Nicht wenige fordern sogar die Ansiedelung eines großen Warenhauses als Frequenzbringer in der Innenstadt und sehen dabei nicht, dass die Zeit der mächtigen Kaufhauskonzerne als Innenstadt-Magneten längst abgelaufen ist. Die traditionellen Warenhäuser sterben auch in den Großstädten aus wie die Saurier der Urzeit.

Spricht man mit den Verantwortlichen in den Kommunalbehörden, dann wird über den Konkurrenzdruck der Nachbarstädte geklagt, über deren Ansiedlungspläne großflächiger Einzelhandelsbetriebe, über die innerstädtischen Hausbesitzer, die nicht bereit sind, Abstriche von ihren Mietvorstellungen vorzunehmen und lieber eine Immobilie leer stehen lassen als sie einem Existenzgründer zu günstigen Konditionen anzubieten.

Diese Begründungen für das Sterben der Innenstadt sind aus Sicht der Betroffenen durchaus verständlich, dennoch gehen diese Argumente am Problem vorbei.

Die eingangs beschriebene schöne Innenstadt ist ein Idealbild, das sich so nicht mehr zurückholen lässt. Je mehr die Innenstädte sterben, umso lieblicher erscheinen den älteren Kunden die Erinnerungsbilder der Stadt „wie sie früher einmal war.“

Aber wie war es früher wirklich? Um die gegenwärtige Situation richtig zu beurteilen und die künftige Entwicklung sicher zu prognostizieren, sollte ein kurzer Blick auf die geschichtliche Entwicklung unserer Innenstädte geworfen werden.

Zu Beginn jener Epoche, welche die Historiker industrielle Revolution nennen, als immer mehr Menschen aus den ländlichen Gegenden in die heutigen Klein- und Mittelstädte zogen, sahen die Innenstädte ganz anders aus als wir uns das heute im Jahr 2019 vorstellen.

Den innerstädtischen Mittelpunkt bildeten immer noch die Kirche oder die Kirchen, der Marktplatz und das Rathaus. Es gab enge Straßen und einige wenige Ausspann-Gasthöfe, in denen die Bauern anhielten, wenn sie „in die Stadt“ kamen.  Um diese zentralen Gebäude herum hatten sich Handwerker mit ihren Ladengeschäften niedergelassen: Bäcker, Metzger, Schuhmacher, Schneider sowie einige wenige Läden mit Artikeln des täglichen Bedarfs, wie „Kolonialwarenhandlungen“, die Luxusartikel anboten, welche nicht auf dem Marktplatz zu kaufen waren: Kaffee, Tee, Tabakwaren, Gewürze, Schokolade und dergleichen. Mit im Zentrum war natürlich auch die Apotheke beheimatet. Es gab eine oder mehrere Eisenwarenhandlungen mit landwirtschaftlichen Geräten, aber auch Haushaltswaren wie Töpfe, Messer, Bestecke und Geschirr. Selbst Schlittschuhe und Petroleumlampen gab es beim Eisenwarenhändler, der zudem die Schlosser und Schmiede der Stadt mit „Grobeisen“ versorgte.

Allmählich entstanden in den folgenden Jahrzehnten sogenannte „Einkaufsstraßen“, meist die Hauptstraße einer Stadt und die angrenzenden Straßen. Neue Geschäftshäuser wurden gebaut, mancherorts auch richtige mehrstöckige „Kaufhäuser“ überwiegend mit Textilien, Glas, Porzellan, Keramik und weiterem Haushaltsbedarf. Zu den Handwerksbetrieben kamen Ladengeschäfte mit industriell gefertigten Waren, neben den Schuhmacher der Schuhladen, neben den Schneider das Modegeschäft. Aus den traditionellen Kolonialwarenläden wurden Süßwaren-, Kaffee- und Teegeschäfte, Tabakwarenhändler und Schreibwarengeschäfte. Für den gehobenen Bedarf der städtischen Kundschaft siedelten sich Modistinnen, Büchsenmacher, Photographen, Goldschmiede und Bijouterie- Geschäfte an. Spielwarenläden, Papeterien und Buchläden vervollständigten das Angebot für das Bürgertum. Studierte Apotheker, die nach den damaligen strengen Rechtsverordnungen keine Genehmigung zur Eröffnung einer zusätzlichen Apotheke erhielten, machten sich als Drogisten selbständig.

Denkt man sich jetzt noch das Amtsgericht, die Ordinationen der Allgemeinärzte, die Kanzleien der Rechtsanwälte und Notare, diversen Cafés und Restaurants hinzu, dann haben wir schon das historische Bild einer Einkaufstadt um 1900, deren Zentralität weit ins ländliche Umland hineinreichte. Parkplatzsorgen waren unbekannt, da der motorisierte Verkehr kaum eine Rolle spielte.

Mancherorts hat sich diese Struktur noch bis über die beiden Weltkriege und in die fünfziger Jahre gehalten. In den Großstädten und den bevölkerungsreicheren Mittelstädten begann die Erosion der mittelständisch geprägten Ladenstraßen jedoch bereits viel früher. Mit dem Aufkommen des Einzelhandelsbetriebstyps des Kaufhauses und des Warenhauses war schon gegen Ende der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts das Schicksal der kleinen Ladengeschäfte und der handwerksnahen Einzelhandelsbetriebe besiegelt.

In den besten Einkaufslagen entstanden mehrstöckige Warenhäuser, ursprünglich Kaufhäuser für Textilwaren, die sich rühmten, alle Sortimente unter einem Dach anzubieten, von der Bekleidung bis zu Haushaltswaren und Lebensmitteln. Die bedeutendsten Warenhäuser wirkten als wahre Einkaufspaläste nach französischem Vorbild in jeder Großstadt als Attraktion und lockten aus dem weiten Umfeld die Kunden in die Metropolen.

In gleichem Stil, nur etwas kleiner, entstanden mehrstöckige Kaufhäuser auch in den Mittelstädten.

Die Eigentümerfamilien der großen Warenhausunternehmen konnten bald den größten Teil des Umsatzes der umliegenden kleinen Ladengeschäfte aufsaugen und errichteten in weiteren Städten Warenhäuser nach dem bewährten Muster.

Damals begann das erste „Einzelhandelssterben“ in den Innenstädten und fatalerweise waren es gerade weitblickende und kapitalstarke jüdische Kaufmannsfamilien, die den damals modernen Typ des filialisierten Warenhauses entwickelten. Nicht wenige in ihrer Existenz bedrohte mittelständische Ladenbesitzer glaubten daher den Versprechen der nationalsozialistischen Propaganda, „die jüdischen Kapitalisten aus Deutschland zu entfernen“. Ihnen gefiel das Motto „Deutsche kauft nicht bei Juden“ und in ihrer Angst vor dem wirtschaftlichen Ruin waren es nicht zuletzt diese konservativ bürgerlichen Kreise, die vom Nationalsozialismus ihre Rettung vor den Großbetrieben erhofften.

Diese Hoffnung wurde, wie wir wissen, gründlich enttäuscht.

Auch die kleinen Geschäfte des Mittelstandes versanken gemeinsam mit den „arisierten“ Warenhäusern im Schutt der zerbombten Innenstädte.

Die bereits erwähnte kurze Renaissance der Innenstädte in den fünfziger Jahren war dem Wiederaufbau nach dem Krieg geschuldet. Zum einen versuchten die mittelständischen Händler, die den Krieg im wahrsten Sinne des Wortes überlebt hatten, ihre Geschäfte am alten Standort wiederaufzubauen. Oft war ihnen von ihrer Vorkriegsexistenz nichts anderes mehr geblieben als das Trümmergrundstück. Im Wiederaufbau wurden so die alten Ladenstraßen belebt und die Schaffung von Parkplätzen für die motorisierte Kundschaft war kein Problem dem besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden musste. Die sogenannten Wirtschaftswunderjahre mit dem Überhang der Nachfrage über das Angebot und mit stabil steigenden Preisen ermöglichte es fleißigen Kaufleuten, sich wieder mit ihren Geschäften zu etablieren.

Zudem begünstigte ein soziologisches Phänomen die kleinteilige Entwicklung der innerstädtischen Einzelhandelslandschaft dieser Zeit: Viele Männer waren gefallen. Die verwitweten und überwiegend noch jungen und zuvor nicht berufstätigen Frauen waren nun gezwungen, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. In der Zeit vor dem Krieg war die weibliche Erwerbstätigkeit nicht ansatzweise so entwickelt wie heute im Jahr 2019, in dem weit mehr als zwei Drittel aller Frauen zwischen 25 und 55 Jahren ihren Lebensunterhalt aus eigener Erwerbstätigkeit bestreiten.

Von den betroffenen Frauen verfügten nur wenige über eine Berufsqualifikation in handwerklichen Bereichen, zum Beispiel als Photographinnen, Schneiderinnen oder Köchinnen. Also blieb die Büroarbeit oder die Beschäftigung im Einzelhandel. 

Daher übernahmen viele Frauen die Geschäfte ihrer gefallenen Männer oder sie wagten selbst mit eigenen Ladengeschäften den Schritt in die Selbständigkeit. So entstanden Lebensmittelgeschäfte, Schreibwarenläden, Blumen- und Geschenkartikelgeschäfte und andere Einzelhandelsbetriebe des täglichen Bedarfs.

Diese Geschäfte waren zumeist innenstadtnah und relativ klein. Das Erscheinungsbild des vielzitierten „Tante Emma Ladens“ ist dieser Periode zuzuordnen.

Diese schönen kleinen „Tante Emma Läden“ von denen viele schwärmen, obwohl sie allenfalls in ihrer Jugend nur noch vereinzelt welche gesehen haben, ist ein typisches Nachkriegsphänomen und war von Anfang an nicht langfristig überlebensfähig.

Der Kostenfaktor, der sich im Einzelhandel am schnellsten verteuerte, war das Personal. Konnten sich viele Familienbetriebe noch durch rigorose Selbstausbeutung und weitgehendem Verzicht auf fremdes Personal über Wasser halten, erzwangen in den siebziger und achtziger Jahre die verfeinerten Kundenbedürfnisse und die Nachfrage nach einer größeren Sortimentsbreite die Einzelhändler zu strukturellen Anpassung.

In den Branchen mit Produkten des täglichen Bedarfs und geringer Handelsspanne musste der teurere Kostenfaktor Personal durch den weniger teuren Kostenfaktor „Fläche“ ersetzt werden. Mit dem Aufkommen von Selbstbedienung und Ausgangskassen im Lebensmitteleinzelhandel entwickelten sich die Supermärkte in den Innenstädten. Oft in ehemaligen Kinos, Immobilien die nach der Verdrängung des Kinos durch das Fernsehen preiswert anzumieten waren.

Um mit den Wünschen der Verbraucher nach Angebotsvielfalt und günstigen Preisen mithalten zu können, reichten bald die aus heutiger Sicht bescheidenen Flächen dieser Supermärkte nicht mehr aus. Billige Flächen standen allerdings im innerstädtischen Bereich nicht zur Verfügung und so entstanden die großflächigen Einzelhandelsbetriebe auf der sogenannten grünen Wiese, also in der Regel weit außerhalb der Innenstädte mit großem Parkplatzangebot und bester Verkehrsanbindung. Die zunehmende Mobilität der städtischen Bevölkerung begünstigte diesen Strukturwandel.

Der Auszug aus der Innenstadt vollzog sich zwischen 1980 und 2000 in verschiedenen Schüben. Zuerst zogen die Lebensmittelanbieter auf die grüne Wiese und dann nach und nach alle wichtigen Branchen. Aus den ursprünglich auf Lebensmittel ausgerichteten Verbrauchermärkte[1] wurden bald SB-Warenhäuser als sogenannte Vollsortimenter. Sogar die Bau- und Möbelmärkte bieten heute an ihren Standorten außerhalb der Innenstädte ein sogenanntes Randsortiment an, das bis zu zehn Prozent des Gesamtangebotes ausmacht und angesichts der Umsatzgröße dieses großflächigen Einzelhandels mehr Umsatz auf sich vereinigt und aus der Stadt abzieht als viele mittelständische Betriebe in der Innenstadt aufweisen.

Zusammenfassend erkennen wir für das Sterben der Innenstädte zunächst drei Gründe:

1.     Die steigenden Personalkosten zwingen die Firmen dazu Personal durch Fläche zu ersetzen. Der Kunde ist bereit, Tätigkeiten, die früher das Verkaufspersonal übernommen hat im Rahmen der Selbstbedienung selbst zu erledigen. Dazu muss die Ware für den Käufer im Geschäft erreichbar sein und in den benötigten Mengen für alle Kunden zur Verfügung stehen. Um dies zu gewährleisten bedarf es großer Flächen, die innerstädtisch nicht zur Verfügung stehen.

2.     Durch größere Mobilität ist der Kunde bereit, großflächige Einzelhandelsbetriebe am Stadtrand aufzusuchen.

3.     Die großflächigen Einzelhandelsbetriebe entwickeln sich immer mehr zu Vollsortimentern[2] , auch wenn sie ursprünglich als Fachmärkte konzipiert waren.

Um die städtische Einzelhandelssituation und ihre Dynamik weiter zu beleuchten dürfte auch ein Blick auf die Discounter hilfreich sein.[3]

Die ersten Discounter tauchten nach den Supermärkten schon relativ früh in den Innerstädten auf. Durch Selbstbedienung, primitivste Ladenausstattung und Warenpräsentation, durch Verzicht auf Frischware und die Beschränkung auf umschlagstarke Artikel zeichneten sich diese Einzelhandelsbetriebe durch hohe Preisaggressivität aus.  Heute sind die Discountfilialisten oder die Discount-Tochtergesellschaften der Einzelhandelsketten gehobener ausgestattet als bei der Einführung dieses Einzelhandelstyp. Ihre Stärke ist aber nach wie vor die Sortimentsbeschränkung auf schnelldrehende Artikel und die Preisattraktivität in der Sonderangebotspolitik.

Wegen ihres geringeren Flächenbedarfes finden sich die Discounter meist in den Gewebezonen kleinerer Ortschaften und in den Wohnbereichen der Mittel- und Großstädte, also nicht im Zentrum.

Durch das Aufkommen von sogenannten Fachdiscountern, z.B. für Werkzeuge oder Elektronische Medien, wanderten weitere Einzelhandelsangebote vom Stadtzentrum in die städtische Peripherie.

Wie schon vermutet schöpft der Online-Handel mittlerweile über 5 % des gesamten Einzelhandelsumsatzes ab, Tendenz steigend.  Besonders betroffen sind dabei die innerstädtischen Anbieter von elektronischen Geräten, Büchern und Textilien. In manchen Sortimentsbereichen wird bereits ein Viertel der Umsätze über den online-Handel und nicht mehr in der Stadt getätigt.

Nach diesen Betrachtungen über die aktuelle Einzelhandelslandschaft wundert es nicht, wenn die Innenstädte sterben.

In den Großstädten entsteht ein Einkaufserlebnis durch Malls, Galerien und durch einzelne, hochexklusive Einzelhandelsbetriebe die mit extrem hochpreisigem Angebot noch in der Lage sind, Mieten und Personalkosten zu erwirtschaften.

Nur ganz vereinzelt finden wir in der Bundesrepublik Deutschland noch Einkaufsstraßen wie die eingangs beschriebenen, mit vielen kleinen inhabergeführten Geschäften und individuellen Angeboten unterschiedlichster Sortimentsbereiche. Fast ausschließlich handelt es sich dabei um historische Städte mit einer intakten Altstadt und einer hohen Frequenz an Touristen und Tagesbesuchern.

Im Übrigen ist die Innenstadt der meisten Städte in Agonie, im Koma oder schon tot.

Alle noch so engagierten Bemühungen lokaler Wirtschaftsförderungsvereine oder Händlervereinigungen werden den Tod der Innenstadt nicht verhindern, ja nicht einmal hinauszögern.

An dieser Stelle der Überlegungen müssen wir uns fragen wie sehen die Innenstädte der Zukunft aus:

Im schlimmsten denkbaren Fall sterben die Städte von innen nach außen, also ebenso wie sie historisch gewachsen sind:

Das Zentrum wird zunehmend unattraktiv als Wohnbereich, hohe Mieten stehen der abnehmenden Wohn- und Verkehrsqualität diametral gegenüber. In mittelgroßen Städten wird das etablierte Bürgertum in die Randgebiete abwandern, die Wohngebäude im Zentrum werden nicht mehr modernisiert und mit zunehmendem Verfall sinkt der Ertragswert und das Milieu der dortigen Mieter. Es entstehen Ghettos von „Neubürgern“ in den ehemaligen Geschäftsstraßen, bei gleichzeitigem weiterem Verfall der eingesessenen Einzelhandelsbetriebe. Nach und nach werden die Seitenstraßen der Innenstädte zu „No Go Arias“.  Am Ende dieses Horrorszenarios wuchern soziale Brennpunkte rund um unbesuchte Kirchen.

Wir lässt sich aus der Sicht der Mittelstandsökonomie und der langfristigen Stadtplanung diese Entwicklung umkehren?

Ich bin der Meinung, ein denkbarer Weg besteht darin, den Innenstädten ihre ursprüngliche Funktionalität zurückzugeben. Die Entwicklung der Innenstädte nicht auf die Einkaufsmöglichkeiten zu fokussieren, sondern auf ihre traditionelle Funktion als Begegnungstätte von Bürgerinnen und Bürgern.

Diese Sicht der Stadtentwicklung ist weniger eine Aufgabe der sogenannten kommunalen Wirtschaftsförderung, sondern einer planmäßigen Inszenierung der Innenstadt.

Wir früher steht im Zentrum der neuen Entwicklung der „Marktplatz“ der in allen Städten noch vorhanden ist. Hier müssen die Bürgerinnen und Bürger zusammenkommen, auch wenn sie nicht mehr in der Innenstadt einkaufen. Dieser zentrale Platz muss regelmäßig mit „Feierabend-Veranstaltungen“, „Stadtfesten“, „Bürger- und Begegnungsfesten“ bespielt werden.

Rund um diese Plätze müssen in Form von Cafés, Bistros und Kneipen weitere attraktive Begegnungsstädte für alle Alters- und Einkommensschichten entstehen. Ebenso muss die Stadt im Rahmen ihres kulturellen Potentials innenstädtische Schwerpunkte in Form von Museen, Ausstellungen, Galerien und Büchereien setzen.

Diese Innenstadtkonzepte dürfen keinesfalls zu großflächig angelegt sein, sondern müssen sich auf das Zentrum konzentrieren. Im Rahmen einer langfristig angelegten Kommunalpolitik sollte die „Rekultivierung“ der Innenstadt so geplant werden, dass dieses Projekt seiner Bezeichnung auch gerecht wird: Nicht der Einzelhandel steht im Vordergrund, sondern das „kulturelle Erlebnis Stadt“. 

In vielen deutschen Großstädten mit gewachsenen oder initiierten innerstädtischen Erlebniswelten, rund um historische, sanierte Quartiere oder geeignete Gewässer, können solche Begegnungszonen mit guter Anbindung des öffentlichen Personennahverkehrs für die Bevölkerung unabhängig vom Einkaufstrend geschaffen werden. Voraussetzung dafür ist der politische Wille zum Umdenken und die notwenige Finanzausstattung der Projekte.

In Klein- und Mittelstädten stellt sich das Problem etwas anders dar: Die kommunalpolitisch Verantwortlichen müssen einsehen, dass die Innenstadt als Einzelhandelsgebiet ihrem Ende entgegengeht. So schwer es auch fällt und so schmerzlich es für die Betroffenen ist. Alle Kraft muss jetzt auf die Inszenierung der traditionellen Innenstadt als Begegnungsraum gelegt werden. Die städtische Wirtschaftsförderung muss ein langfristig ausgerichtetes „Quartiermanagement“ betreiben, in dessen Mittelpunkt der Service- und Eventgedanke steht. Existenzgründungen im Bereich der Gastronomie und der Kleinkunst dürfen keinesfalls durch allzu lange Behörden- und Bewilligungswege erschwert werden. In die Konzeptentwicklung sind alle sozialen Gruppen der Stadt einzubinden: Zuerst die politischen Parteien, die ansiedlungswilligen Unternehmerinnen und Unternehmer, die Vereine und Bürgerinitiativen und nicht zuletzt die Kirchen, mit ihren nach wie vor vorhandenen Gestaltungsmöglichkeiten.

Konzeptentwürfe sollten in diesem Rahmen allerdings keinesfalls zerredet, sondern zielstrebig und mit Nachdruck von der jeweiligen Stadtspitze durchgesetzt werden.

Freilich ist dies keine leichte Aufgabe, bei der Rückschläge oft unvermeidbar sind. Dennoch erscheint es mir der einzige Weg aus dem Tod der Innenstädte wieder eine Chance zu machen.

 


[1) Großflächiger (1.500-5.000 qm) eingeschossiger Einzelhandelsbetrieb in Selbstbedienung.

[2] Vollsortimenter in diesem Sinne sind Einzelhandelsbetriebe, die nicht nur ein tiefes und breites Angebot in ihrem branchentypischen Leistungsprogramm haben, sondern durch ausgebaute Randsortimente ein umfassendes bedarfsorientiertes Leistungsprogramm ausweisen, z.B. Lebensmittel, Getränke, Zeitschriften usw. im Baumarkt.

[3] Discounter sind einzelhandelsbetriebe mit relativ schmalen und flachen Sortiment das auf hohen Warenumschlag abzielt. Im Vergleich zum großflächigen Einzelhandel kleinerer aber intensiv genutzter Verkaufsfläche.



[1] Malls sind großflächige Einzelhandelszentren, bei denen in einem Gebäude mehrere Anbieter zusammengefasst sind. Es soll der Eindruck einer Einkaufsstraße mit mehreren kleinen Geschäften entstehen. Sie sind meist in den 1A Lagen von Großstädten anzutreffen. Mieter in Malls sind in der Regel Filialisten