Prof. Dr. Helmut Reichling zu Themen von gestern, heute und morgen
aktualisiert am: 14.10.2020
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Meine Meinung zum Impfen ist vielleicht ganz unerheblich. Möglicherweise interessiert sich auch niemand dafür, was ich über das Impfen denke und wie ich mich verhalte.
Vor allem möchte ich keinesfalls jemandem meine Meinung aufdrängen oder versuchen, andere von meiner Meinung zu überzeugen. Jeder soll denken und glauben, was er für richtig hält und sich dementsprechend verhalten, ohne andere zu beleidigen, zu belästigen oder zu gefährden
Als ich zum ersten Mal geimpft
wurde, hat mich keiner danach gefragt, auch meine Eltern wurden nicht gefragt.
Es handelte sich um eine Pockenimpfung. 1952 bestand in der Bundesrepublik
Deutschland eine Impfplicht gegen Pocken.
Ich war also bei meiner ersten
Impfung noch sehr jung. Die Pocken dagegen schon sehr alt. Irgendwann in grauer
Vorzeit ist der Pockenerreger auf den Menschen übergesprungen und wurde zu
einer Plage der Menschheit. Als eines der ersten nachgewiesenen Opfer dieser
Krankheit gilt der ägyptische Pharao Ramses V., wie man an seiner Mumie
feststellen konnte.
Die Krankheit hat im Laufe der
Zeit alle Kontinente erreicht. Pocken sind sehr ansteckend. Nach einer
Inkubationszeit von etwa zwei Wochen stirbt ein Drittel der Erkrankten. Bei den
Genesenen kommt es teilweise zu schweren Folgeschäden zumindest, zu unschönen
Verunstaltungen durch Pockennarben.
Auch Fürstenhöfe wurden nicht
von der Krankheit verschont. Der Französische König Ludwig XV. erkrankte 1774
unmittelbar nach einem Jagdausflug. Seine Ärzte waren machtlos. In den
zeitgenössischen Chroniken ist nachzulesen, dass er wegen der hohen
Ansteckungsgefahr von seiner höfischen Umgebung verlassen und einsam starb. Nur
seine Geliebte Madame Dubarry und sein Freund Christian IV, Herzog von
Pfalz-Zweibücken blieben bis zum Schluss bei ihm.
Das ist wahre Liebe und treue
Freundschaft.
Aber dahinter verbirgt sich
noch eine andere Geschichte.
Diese Geschichte beginnt im
Jahr 1716, 58 Jahre vor dem Tod des Königs.
Damals begleitete die
englische Schriftstellerin Lady Mary Wortley Montagu (1689-1762) ihren Mann,
den britischen Botschafter im osmanischen Reich, nach Konstantinopel. Als
gebildete und vielseitig interessierte Frau lernte sie sehr schnell Türkisch
und pflegte engen Kontakt mit den Damen der dortigen Oberschicht. Bei einer
türkischen Adelsfamilie wurde sie Zeugin einer Impfung gegen Pocken. Das war
für sie äußerst interessant, denn sie war selbst 1715 an den Pocken erkrankt
gewesen. Ihr Bruder war 1730 mit 30 Jahren an den Pocken verstorben.
Pockenimpfungen waren damals
in den besseren türkischen Familien schon fast eine Selbstverständlichkeit. Man
impfte mit abgetöteten Viren, sogenannten Variolaviren, ein Verfahren, dass
schon seit Jahrtausenden in China bekannt gewesen sein soll.
Lady Mary ließ daraufhin ihren
Sohn noch im Jahr 1716 von dem in Konstantinopel praktizierenden englischen
Arzt Dr. Charles Maitland impfen.
In ihre Heimat zurückgekehrt,
wird sie in England 1721 mit einer Pockenepidemie konfrontiert. Nun lässt sie
auch ihre Tochter impfen und versucht König Georg I. vom Nutzen dieser Impfung
zu überzeugen. Der König, anfangs skeptisch, entschließt sich doch angesichts
der hohen Infektionszahlen und der vielen Toten zu Versuchen mit der Impfung.
An Strafgefangenen und Kindern
in Waisenhäusern wird das Verfahren der „Inoculation“ erprobt. Als die Tests
zur Zufriedenheit ausfallen, lässt der König auch seine Enkel durch den
niederländischen Arzt Jan Ingenhousz impfen.
Ingenhousz zählte zu den
bekanntesten Medizinern seiner Zeit. Kaiserin Maria Theresia hatte ihn 1768 als
Hofarzt nach Wien berufen, wo er bereits im selben Jahr die Söhne der Kaiserin,
Maximilian und Ferdinand, sowie eine Tochter gegen Pocken impfte.
Diese Art der Impfung
verbreitete sich schnell an den Fürstenhöfen Europas, obwohl sie von
zahlreichen Zeitgenossen als sehr gefährlich eingestuft wurde. Der fortschrittliche
Herzog von Pfalz-Zweibrücken, der naturwissenschaftlich sehr interessiert war
und zahlreiche Modernisierungen in seinem kleinen Fürstentum eingeführt hatte,
war also 1774 am Krankenbett des sterbenskranken französischen Königs schon
gegen Pocken geimpft und wir können davon ausgehen, dass es Madame Dubarry wohl
auch war. In England war schon seit 1766 reihenweise nach der sogenannten
Suttonschen Methode gegen Pocken geimpft worden.
Aber die Entwicklung der
Impfung machte noch einen weiteren Fortschritt, und der ist mit dem Namen
Edward Jenner (1749-1823) verbunden. Dieser Mediziner war ein gut ausgebildeter
Arzt und hatte schon zahlreiche Impfungen durchgeführt. Sein Freund, der Arzt
und Apotheker John Fewster (1738-1824), schilderte ihm die Geschichte vom
„Milchmädchen-Mythos“. Man erzählte sich, dass Melkerinnen auf den Bauernhöfen,
wenn sie sich einmal an den für den Menschen ungefährlichen Kuhpocken infiziert
hätten, gegen die richtigen, tödlichen Pocken immun seien. Jenner ging der
Geschichte nach und fand diese Beobachtung bestätigt. Eine ganz einfache
Ursache mit einer großen Bedeutung. Noch heute kennen wir den Ausdruck
„Milchmädchen-Rechnung“ und wissen gar nicht mehr, dass er ursprünglich aus der
Geschichte der Impfung stammt.
Am 14. Mai 1796 impfte Jenner
zum ersten Mal einen achtjährigen Jungen mit Kuhpocken. Diese Pockenimpfungen
mit Kuhpocken übertrafen alle Erwartungen.
Doch schon damals gab es
entschiedene Impfgegner. Jenners wissenschaftliche Veröffentlichungen wurden
von der Royal Society abgelehnt, und seine Impfung mit Kuhpocken von den
Zeitungen und in der Öffentlichkeit lächerlich gemacht. Den Wissenschaftlern war
die Methode zu simpel und die einfache Bevölkerung hatte Angst, sich durch
diese Impfung in Kühe zu verwandeln, oder zumindest den Rest des Lebens mit
Kuhhörnern oder Kuhschwänzen herumlaufen zu müssen.
Jenner war ein guter Arzt aber
kein Marketing-Fachmann, denn sonst wäre seine Impfmethode nicht Vakzination
genannt worden, abgeleitet vom lateinischen Wort Vacca für Kuh. Auch
verzichtete er auf jeglichen rechtlichen Schutz seiner Impfmethode, um die
Kosten für die Menschen, die sich impfen lassen wollten, möglichst gering zu
halten.
Der Siegeszug der
Pockenimpfung war nicht mehr aufzuhalten. Napoleon Bonaparte erkannte sofort
die militärische Bedeutung dieses Verfahrens und ließ seine Soldaten impfen. Er
bezeichnete die Impfung wörtlich als die „größte Errungenschaft der Menschheit“.
Obwohl sich Frankreich und England damals im Krieg befanden, verlieh er Jenner
einen Orden und lließ auf den Wunsch des Arztes mehrere Kriegsgefangene frei.
In Bayern wird 1807 die
allgemeine Impflicht per Gesetz verordnet. Baden folgt 1809, Preußen 1815. In
Schweden wird 1816 eine allgemeine Impfpflicht eingeführt und in England 1867.
Nach der Reichsgründung 1874
wurde in Deutschland das „Reichsimpfgesetz“ erlassen und die Impfung überall in
Deutschland gesetzlich vorgeschrieben.
Als ich als Kind gegen Pocken
geimpft wurde, war das also eine Zwangsimpfung. Noch lange trug ich an meinem
rechten Oberarm wie viele Altersgenossen meine Impfnarben. Mit etwa zwölf
Jahren wurde ich dann nochmals gegen Pocken geimpft.
1967 setzte die
Weltgesundheitsorganisation WHO eine weltweite Impfpflicht gegen Pocken durch.
Die gesetzliche Impfplicht gegen Pocken endete in der Bundesrepublik
Deutschland 1976.
Vier Jahre später 1980, galten
die Pocken auf der ganzen Welt als ausgerottet. Der letzte Patient der an
Pocken erkrankt war, ist sogar namentlich bekannt: Es war Ali Maow Maalin aus
Somalia.
Die Pockenimpfung war freilich
nicht meine letzte Impfung. Ich war noch nicht in der Schule, da impfte man
mich gegen Scharlach, Diftherie und Tetanus. Es waren drei Spritzen mit einem
Impfstoff, die mir im Abstand von einigen Wochen verabreicht wurden.
Scharlach gilt noch heute als
eine gefährliche Kinderkrankheit, die beispielsweise im Jahr 2009 in England zu
einer Epidemie mit hoher Sterblichkeit führte. Heute lese ich, dass es wegen
der Vielzahl der Erreger keinen Impfstoff gegen Scharlach gibt. Ich weiß nicht,
mit was ich damals geimpft wurde. Scharlach habe ich auf jeden Fall nicht bekommen.
Diphterie ist eine tödliche
Kinderkrankheit, an der auch der Bruder meines Vaters mit sechs Jahren
verstorben ist. In alten Zeiten nannte man diese Krankheit den „Würgeengel“,
denn sie manifestiert sich im Rachenraum. Sie wurde schon von Hippokrates in
der Antike und von 1525 Paracelsus beschrieben. Dank der von Emil Behring und
von Gaston Ramon entwickelten aktiven und passiven Impfstoffen, hat die
Diphterie viel von ihrem ehemaligen Schrecken verloren. Sie kann aber schnell
wieder gefährlich werden, wenn die Durchimpfungsrate unter einen bestimmten
Wert sinkt. So konnte man beim Zerfall der Sowjetunion beobachten, dass mit
Absenkung der Rate auf unter 73 % eine Diphterie-Epidemie mit 48.000 Toten im
Jahr 1994 das Land heimsuchte.
Die wichtigste Impfung, die
ich damals bekam, war wohl jene gegen Tetanus. Sie ist im Laufe meines Lebens
viele Male bei Verletzungen wiederaufgefrischt worden. Auch diese Krankheit
wurde schon vom antiken Arzt Hippokrates beschrieben. Der Erreger ist deshalb
so gefährlich, weil er im Erdboden verborgen ist. Die Krankheit lähmt und
verkrampft das Muskelsystem, und der Patient erstickt qualvoll bei vollem
Bewusstsein. Die Impfung gegen Tetanus verdanken wir dem japanischen Arzt
Kitasato Shibasaburo und Emil Behring.
An die darauffolgenden
Impfungen, ich war da etwa 10 Jahre alt und noch in der Grundschule, kann ich
mich noch sehr gut erinnern. Besonders deswegen, weil ich als Kind vor der
Krankheit, gegen die geimpft werden sollte, sehr große Angst hatte.
In meiner Kindheit gab es nämlich
noch richtige Winter mit viel Schnee und richtige Sommer mit viel Sonne. Wir
schwammen in Badeteichen, Bächen und eigentlich überall, denn das Wasser schien
sauber und warm genug zum Baden. Doch das Wasser war gefährlich, hier lauerten
die Erreger der Polio oder Kinderlähmung, wie man diese Krankheit auch nannte. In
natürlichen Gewässern bleibt das Polio-Virus mehrere Wochen vermehrungsfähig. Damals
in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts gingen Polioepidemien über
Deutschland hinweg. Die Folgen der Krankheit waren grausam, und jeder von uns
kannte mindestens einen Erwachsenen, der die Erkrankung zwar überlebt hatte,
aber für den Rest seines Lebens behindert war.
Jonas S. Salk hatte einen Impfstoff
mit abgetöteten Viren erfunden, der 1955 in den USA zugelassen wurde und dort
zu einem rapiden Rückgang der Kinderlähmung führte. Albert Sabin gelang es 1961
einen Impfstoff mit Lebendviren zu entwickeln, der über den Magen-Darm-Trackt
aktiviert wird, die Schluckimpfung. Als wir damals klassenweise zum
Gesundheitsamt geführt wurden, um dort ein kleines Becherchen mit dem Impfstoff
zu trinken und danach gegen die Kinderlähmung geschützt waren, war das für mich
wirklich ein ganz besonderer Moment. Die Kinderlähmung gilt heute (2020) in
Deutschland als ausgerottet. Wegen meiner Begeisterung für diese Impfung war
ich in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts der „Poliobeauftragte“
einer großen weltweiten Organisation, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, mit
Hilfe ihrer personellen und finanziellen Ressourcen diese Krankheit durch
flächendeckende Impfung auch in der sogenannten dritten Welt vollständig von
diesem Planeten verschwinden zu lassen.
Als ich während des Studiums
Zeit hatte mir die Welt anzusehen, erhielt ich meine nächste Impfung. Diesmal
ganz freiwillig. Da es mich nach Südamerika zog, ließ ich mich gegen
Gelbfieber, eine dort verbreitete tödliche Tropenkrankheit impfen. Für diese
Impfung musste ich sogar das Gesundheitsamt meines Studienortes aufsuchen, da
sie in normalen Arztpraxen nicht verabreicht werden konnte.
Die Jahre gingen ins Land. und
ich gerne auf die Jagd. Natürlich war mein Jagdhund gegen Tollwut geimpft. Eine
tödliche Krankheit, die von Wildtieren übertragen wird. Warum soll nur mein
Hund geimpft sein, dachte ich mir und ließ mich auch dagegen impfen. Nicht vom
Tierarzt, sondern von meinem Hausarzt. Da der Hauptüberträger der Tollwut in
Deutschland der Rotfuchs ist, habe ich mich später auch in meinem Jagdrevier an
der gesetzlich vorgeschriebenen Schluckimpfung für Füchse beteiligt. Das
Ergebnis dieser bundesweiten Aktion war praktisch das Verschwinden der von
Wildtieren übertragenen Tollwut aus Deutschland.
Der erste Impfstoff gegen
Tollwut wurde 1885 von Louis Pasteur entwickelt. Der erste Mensch der dieser
Impfung sein Leben verdankt war, Josef Meister, der in diesem Jahr von einem
tollwütigen Hund gebissen worden war.
Da ich mich als Jäger oft im
Wald aufhalte, habe ich mich auch gegen FSME impfen lassen. Eine Form der
Gehirnhautentzündung, die von Zecken übertragen wird.
Da ich auch nicht warten will
bis die nächste Influenza-Epidemie wie 1918-1920 mit weltweit etwa 50 Millionen
Toten oder 1995/1996 mit 30.000 Toten allein in Deutschland zu uns kommt, lasse
ich mich jedes Jahr gegen Influenza impfen. Dabei weiß ich natürlich auch, dass
diese Impfung nicht vor den sogenannten grippalen Infektionen schützt. Aber die
sind auch im Allgemeinen nicht so tödlich.
Da ich inzwischen schon recht
alt bin und ab dem 65, Lebensjahr das Risiko, an einer gefährlichen, durch
Pneumokokken verursachten Lungenentzündung zu erkranken deutlich höher ist als
bei jungen Menschen, habe ich mich auch gegen Pneumokokken impfen lassen. An
durch Pneumokokken verursachten Endzündungen sterben in Deutschland jedes Jahr 10.000
Menschen. Da Antibiotika infolge des übermäßigen Einsatzes in der Tierzucht
immer unwirksamer werden, sterben die Infizierten meist schon nach 48 Stunden.
Die Sterblichkeit liegt bei über 10 Prozent der Infizierten.
Noch nie in der Geschichte der
Menschheit wurde so intensiv nach einem Impfstoff geforscht wie bei der
globalen Corona-Pandemie des Jahres 2020. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO)
plant, dass von den 34 weltweit in der klinischen Erprobung befindlichen
Präparaten bis Ende 2021 zwei Milliarden Impfdosen zur Verfügung stehen. In Russland
wurde am 11. August ein Impfstoff zugelassen, dessen Massentest jedoch erst im
September 2020 nachgeholt wurde.
In den USA hat Präsident Trump
wiederholt die Zulassung eines getesteten Impfstoffes für Oktober 2020 in
Aussicht gestellt. Die von der US-Arzeimittelbehörde (FDA) veröffentlichten
Richtlinien für die beschleunigte Zulassung eines Impfstoffes machen aber eine
Notzulassung vor November 2020 unwahrscheinlich. Die Firmen Biontech und Pfizer
wollen nach eigenen Angaben im Oktober 2020 das Zulassungsverfahren für diese
Präparate beantragen und im Falle einer Genehmigung bis Ende des Jahres bis zu
100 Millionen Impfdosen herstellen.
Mir ist klar, dass es in
Deutschland und weltweit viele Impfgegner gibt. Für sie habe ich volles
Verständnis. Als Verhaltensforscher weiß ich, dass sich das menschliche
Verhalten im Laufe der Jahrhunderte nicht ändert. Ich lese mit großem Interesse
die Posts der Impfgegner, Masken-Verweigerer und Corona Leugner in den sozialen
Netzwerken. Ich akzeptiere deren Haltung und Meinung. Es fällt mit lediglich
auf, dass fast alle solche Äußerungen von Personen kommen, die zum kleineren
Teil mit ihren Posts im Netz Geld verdienen oder ihre Anhängeschar vergrößern
wollen und zum größeren Teil in den sozialen Netzwerken eine Möglichkeit sehen,
sich durch abgehobene oder kritische Posts egal zu welchem Sachverhalt zu
profilieren. Dafür habe ich großes Verständnis oder besser gesagt, als
Wissenschaftler kann ich dieses Verhalten aus der Sicht der Verhaltensforschung
erklären.
Ich allerdings werde mich impfen
lassen, sobald es möglich ist.