Prof. Dr. Helmut Reichling zu Themen von gestern, heute und morgen
aktualisiert am: 11.02.2016
Regelmäßig kurz vor Silvester häufen sich in den sozialen digitalen Netzwerken die Aufrufe, doch dieses Jahr auf das „Böllern“ zu verzichten.
Am intensivsten mahnen
Tierfreunde, die ihre Katze in der lautesten Nacht des Jahres unter dem Bett
suchen müssen oder deren Hunde schon am Morgen, aufgeschreckt durch vorzeitig
gezündete Knallfrösche und Kanonenschläge, das Elend der kommenden Nacht
vorausahnen und sich mit eingezogenem Schwanz in die äußerste Ecke der Wohnung
zurückziehen.
Oft raten Tierärzte sogar dazu, den geplagten Mitbewohner mit pharmazeutischen
Mitteln soweit zu sedieren, dass er die „Feierlichkeiten“ um sich herum nur
noch im Dämmerungsschlaf wahrnimmt. Gerade bei älteren Hunden bleibt dies mit
dem Risiko verbunden, dass im Jahr für das man sich gerade noch viel Glück
gewünscht hat, ein liebes Familienmitglied nicht mehr dabei sein kann.
Naturschützer erinnern auch
daran, dass nicht nur unsere Haustiere unter der Silvesterknallerei leiden,
sondern auch die Wildtiere, die in den Wäldern rund um unsere Städte und
Dörfer, aufgeschreckt durch treibjagdartigen Lärm nicht selten geradewegs in
den Tod flüchten, und das in einer zumeist äsungsarmen Jahreszeit, in der das Wild ohnehin mit seinen Reserven
haushalten muss.
Wer seinen Blick über die Tiere
in Haus, Wald und Flur hinaus auf die Menschen lenkt, dem kommt es doch sehr
seltsam vor, dass in einer einzigen Nacht pyrotechnische Artikel im
Verkaufswert von 135 Millionen Euro in den Himmel geschossen werden – und das
mit steigender Tendenz.
Aber, ist es nicht ein so schöner
alter Brauch, das Neue Jahr mit Böllern und Raketen, mit Kanonenschlägen,
Chinakrachern und weiteren „Neujahrsartikeln“ aus überwiegend ausländischer
Billigproduktion zu begrüßen.
Für manche mag es ein schöner
Brauch sein. Die Jüngeren unter uns kennen nichts anderes. Aber ist es wirklich
ein alter Brauch? Ist es nicht vielmehr
so, dass es der Kommerz verstanden hat, einen Brauch zu schaffen, der zu einem
stattlichen und wachsenden Markt geworden ist?
Viele Dinge, die uns als
Traditionen oder hergebrachtes Brauchtum verkauft werden, sind nichts anderes
als geschickte Marketingstrategien oder die Kaperung eines wirklich alten
Brauches für die Entwicklung neuer Märkte.
Man denke an den
Valentinstag, - in Deutschland erstmalig
1950 in der heutigen Form begangen-, der sich so sehr zum Blumen- und
Süßigkeiten Schenktag entwickelte, dass sich der hl. Valentin, der Schutzpatron
der Liebenden, am 14. Februar in seinem Grab umdreht. Der Muttertag: Die US-Amerikanerin Anna Marie
Jarvis, die ihr Leben lang für die Einführung eines Müttergedenktages als offiziellem Feiertag in den Vereinigten
Staaten gestritten hatte, musste, als dieser Tag endlich eingeführt worden war
seine hemmungslose Kommerzialisierung erleben und kämpfte schließlich
–erfolglos – für seine Abschaffung. Sie
starb verbittert und in Armut, während der Blumen- , Parfum-, Schokoladen- und
Grußkartenhandel fette Gewinne einfuhr.
In Deutschland wurde traditionell
Allerheiligen und Allerseelen als Totengedenktage begangen. Halloween kannte
man bestenfalls aus der angelsächsischen Welt. In der Ethnologie, insbesondere
der Brauchtumsforschung, gilt es
mittlerweile als sichere Erkenntnis, dass Halloween keinerlei Wurzeln in
uralten keltischen Bräuchen hat. Es entstammt vielmehr der Sehnsucht nach alten
Traditionen und dem Wunsch, die an Halloween üblichen „Heischegänge“ (Trick or Treat) und Verkleidungen mit einem
keltischen Ursprung zu verbrämen. Der Import des amerikanischen Halloween nach
Deutschland wurde von den wirtschaftlichen Interessenverbänden initiiert, deren Umsätze durch den 1991 infolge des
Golfkrieges ausgefallenen Karnevals/Faschings eingebrochen waren. Insbesondere
die Hersteller von Karnevalskostümen und Karnevalzubehör trafen sich damals zu
einem Krisengipfel, und es gelang ihnen, innerhalt kürzester Zeit Halloween als
Markt zu etablieren.
Heute gehören Hexenkostüme,
Skelette in jeder Form, Totenköpfe und Tischfeuerwerk sowie weitere spezielle
Artikel schon zum festen Sortiment eines Supermarktes bevor die „traditionellen
Feierlichkeiten“ beginnen. Manche deutsche Kommune versucht sogar, den
Nachteinkauf an Halloween zum Magneten des innerstädtischen Einzelhandels unter
dem passenden Motto „die Einkaufsstadt des Grauens“ aufzuwerten.
Wenn zum 1. November die
Halloween-Reste aus den Regalen geräumt werden, nehmen Heerscharen von
Nikoläusen deren Platz ein. Lebkuchen, Weihnachtsgebäck und
„Weihnachtsdeko“ begleiten uns dann bis
zur Heiligen Nacht. Weihnachten, ein weiterer riesiger Markt, der sich längst
von seiner ursprünglichen Bedeutung entfernt hat. Der hl. Nikolaus dreht sich am 6. Dezember im Grabe um.
Vom Weihnachtsgeschäft geht es
dann ohne Unterbrechung in den Verkauf von Silvesterzubehör, den oben schon erwähnten
Böllern und Krachern, denen wir ja hier eigentlich unsere Aufmerksamkeit im
Speziellen widmen wollen.
Ist das Böllern an Silvester
wirklich ein uralter Brauch oder will man uns das nur weismachen, weil es gut
fürs Geschäft ist?
Zum chinesischen Neujahrsfest
gehört es wohl, den Dämon des „Jahresmonsters“ mit Licht, Krach und roter Farbe
zu verjagen. Zum Krach gehören auch
Feuerwerkskörper. Das erstaunt nicht, denn in China war schon im 14.
Jahrhundert das „Schwarzpulver“ bekannt,
bevor es der Franziskanermönch Berthold Schwarz 1359 offiziell „erfunden“ hat.
Das Verjagen böser Geister durch Lärm scheint
weltweit in allen Kulturen verwurzelt zu sein. Auch bei uns in Deutschland ist
das eine uralte Tradition. In erster
Linie war es die Aufgabe der Kirchenglocken in der Silvesternacht, durch Einläuten des neuen Jahres das Böse in
der Welt, in Person des Bösen höchst selbst in seine Schranken zu weisen. Auch die Bevölkerung beteiligte sich seit
alters her, mit den Hilfsmitteln, die man zur Hand hatte, um die Wintergeister
mit viel Krach zu verjagen. Da wurde mit Peitschen geknallt, wie im Harz oder
in Oberbayern, da wurden Töpfe geschlagen, wie im Allgäu oder mit Schellen und
Glocken den bösen Geistern das Grausen gelehrt.
Das Vieh stand an Silvester im
Stall, war noch nicht auf der Weide oder auf der Alm, und so konnte der Bauer
die Glocken von Zensi und Lisa, von Maike und Dörte, vom Ständer nehmen und
damit lärmend und läutend mit seinen Mitbürgern durch die Dorfstraße ziehen, um
das neue Jahr zu feiern. Auch manches Ziegenglöckchen mag da gehört worden
sein.
Besonders in den rheinischen
Gegenden hat sich dieses Glockenschlagen fast zu einer eigenen Kunstform
entwickelt. Die Glocke wurde dabei nicht wie eine Kirchenglocke mit dem Klöppel
zum Klingen gebracht, sondern sie wurde von außen geschlagen. Dabei konnte
zudem der Ton der Glocke variiert werden.
Dieses traditionelle Glockenschlagen wird als „beiern“ bezeichnet.
Vermutlich aus dem altfranzösischen Wort „baier/baiez“, das so viel wie anschlagen oder bellen bedeutet.
Auch im englischen Wort für Glocke „bell“ finden wir noch diesen Wortstamm.
Aber wann wurden das „Beiern“ und
die ursprünglichen mit Lärm verbundenen Silvesterbräuche durch Böller und
Kanonenschläge ersetzt?
Feuerwerke gab es schon in der
Barockzeit, eine Kunstform die damals als wichtiger Teil der Repräsentation an
den Fürstenhöfen angesehen wurde.
Staatsfeste, Königskrönungen, Hochzeiten aber auch Bälle krönte man
regelmäßig mit prachtvollen Feuerwerken.
Das Feuerwerk galt in Frankreich
und Deutschland im 18. Jahrhundert als ein Privileg des Hochadels, der sich an
den Feuerbildern am nächtlichen Himmel ergötzte. Doch auch wer nicht dazu gehörte konnte sich
aus angemessener Entfernung heraus des Himmelsschauspiels erfreuen. In der Höhe
war das Spektakel für alle gleich und verfehlte auch sicher nicht die Wirkung
auf die Untertanen.
Im darauffolgenden Jahrhundert
erlebte das Feuerwerk seine Demokratisierung. Beim Hambacher Fest 1832, im
Vormärz der bürgerlichen Revolution von 1848, wurden republikanische Reden
gehalten und die Abschaffung der alten Ordnung gefordert. In diese
demokratische Begeisterung hinein gründete der Hamburger Kaufmann Georg
Berckholtz mit den Kenntnissen, die er als Artillerist erworben hatte, 1838
eine pyrotechnische Fabrik zur Herstellung von Feuerwerkskörpern, die bis zum
heutigen Tag die professionellen Pyrotechniker bedient.
Die bürgerliche Revolution
scheiterte zwar, aber das Feuerwerk war nun auch eine Lustbarkeit des
erstarkenden Bürgertums, das besonders nach der industriellen Revolution den
alten Adel zu imitieren suchte. Geselligkeitsvereine
wurden gegründet und rauschende Bälle in den großbürgerlichen „Casino-Gebäuden“
abgehalten. Den Höhepunkt bildete auch dieses Mal ein buntes Feuerwerk.
Vor allem der Silvesterball war
für das etablierte Bürgertum eine der wichtigsten Veranstaltungen des Jahres. Mit
dem vom Ballveranstalter organisiert Silvesterfeuerwerk konnte man zeigen, wer
man war und was man zu bieten hatte. Auch hier standen die Angehörigen der
ärmeren Schichten an den Rändern der Parks und feierten Silvester und Feuerwerk
mit.
Während und nach den Weltkriegen
des 20. Jahrhunderts wurde der Bedarf
nach Feuerwerk anderweitig gedeckt und erst zu Beginn der 50iger Jahre entwickelte
sich das Bedürfnis der breiten Bevölkerungsschichten, ins Neue Jahr mit
individuellem Kleinfeuerwerk einzutreten.
Dieses Bedürfnis entstand nicht
von ungefähr. Es wurde ein Markt
entdeckt und mit immer mehr immer bunterem und immer lauterem
Silvesterfeuerwerk das Massenbedürfnis nach individueller pyrotechnischer
Selbstdarstellung befriedigt. Natürlich
profitierten auch die Lebensmittel- und Getränkebranche von den
„Silvesterriten“. Aber Böller und
Kracher sind doch am typischsten für diesen großen Markt, der als uralte
Tradition in den Köpfen der Menschen steckt auch wenn diese Tradition noch
keine 70 Jahre alt ist.
Ich bin der Meinung, es ist an
der Zeit wieder zu den wirklich alten Silvestertraditionen zurück zu kehren,
auf Böller und Kracher zu verzichten und stattdessen vielleicht das Neue Jahr
mit einer schönen Glocke einzuläuten.
Also: Beiern statt böllern.
Um allen Vermutungen vorzubeugen: Ich bin ordentlicher Professor für Marketing, insbesondere Konsum- und Verhaltensforschung, aber kein Lobbyist der bundesdeutschen Glockenindustrie.
Prof. Dr. Helmut Reichling, Hochschule Kaiserslautern, Campus Zweibrücken, 66482 Zweibrücken, Amerikastr. 1